Weshalb ein gerechter Strukturwandel («Just Transition») auch für die Schweiz relevant ist
Im Jahr 2019 verabschiedete Spanien eine Strategie für einen gerechten Strukturwandel.
Das Ziel? Sicherstellen, dass der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen sozialverträglich ist. Im selben Jahr setzte Deutschland eine „Kohlekommission“ ein, um einen Plan für die Reduzierung und Beendigung der Kohlegewinnung zu entwickeln. Auch hier die gleiche Frage: Wie kann ein gerechter Strukturwandel für Menschen und Regionen, die stark in den Kohlebergbau involviert sind, gewährleistet werden? Auch die EU stellt sich ähnliche Fragen. Seit 2021 verfügt sie einen Mechanismus für einen gerechten Strukturwandel. Er soll Regionen unterstützen, die von ökologischen Übergangsmassnahmen besonders betroffen sind.
Ein gerechter Strukturwandel – Auch für die Schweiz?
Was heisst es, den Übergang gerecht zu gestalten? Und warum sollte dies für die Schweiz relevant sein, ein Land, das auf seinem Gebiet keine fossilen Brennstoffe fördert? Am Beispiel unseres Ernährungssystems lässt sich die Relevanz auch für die Schweiz veranschaulichen. Denn die Idee des gerechten Strukturwandels lässt sich eigentlich auf alle Politiken des ökologischen Übergangs anwenden.
Man ist sich einig: Es braucht eine Transformation des Ernährungssystems in Richtung mehr Nachhaltigkeit. Doch ist man sich weniger einig, wie dies am besten zu erreichen ist. In der Schweiz suchten in den letzten Jahren zahlreiche Volksinitiativen den Wandel dieses Systems zu beschleunigen, wie bspw. die vom Umweltmilieu lancierten Pestizid-Initiativen (2021). Das bäuerliche Milieu hat sich stark gegen diese Initiativen mobilisiert mit dem Argument, dass diese Initiativen das Überleben ihrer Betriebe, ihre berufliche Identität und die Schweizer Landwirtschaft im Allgemeinen bedrohen.
Abgesehen davon, ob man für oder gegen diese Initiativen ist, stellt sich die Frage, wie ein Konsens zwischen Interessengruppen, die z.T. grundlegend andere Meinungen vertreten, erreicht werden kann. Nicht selten werden in den Debatten um das Ernährungssystem ökologische Fragen als Widerspruch zu wirtschaftlichen und sozialen Fragen wahrgenommen. Die Anfänge dessen, was später zur Idee des gerechten Strukturwandels wurde, basierte übrigens auf dem Wille vom amerikanischen Gewerkschafter Tony Mazzochi den Gegensatz „jobs vs. environment“ in den 1970ern zu überwinden.
Soziale Gerechtigkeit im Zentrum des ökologischen Übergangs
Der gerechte Strukturwandel beruht auf einem einfachen und starken Prinzip: Wenn die Politik um den ökologischen Übergang eine Chance haben möchte, ist es absolut notwendig, soziale Gerechtigkeitsfragen mitzuberücksichtigen. Das Risiko, wenn nicht? Eine Reproduktion oder gar Verschärfung sozialer Ungleichheiten. Dies ist ethisch nicht zu rechtfertigen. Zudem besteht das Risiko, dass Teile der Bevölkerung starken Widerstand leisten oder gar endlos den ökologischen Übergang blockieren.
Der gerechte Strukturwandel zielt also darauf ab, die soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt der Massnahmen des ökologischen Übergangs zu stellen. Im Gegensatz dazu wurde der ökologische Übergang in der Schweiz bislang ausschliesslich als Umweltfrage verstanden. Infolgedessen werden soziale Gerechtigkeit und Ökologie oft als separate Nachhaltigkeitsziele behandelt, ohne ihre interdependente Natur zu berücksichtigen. Zudem werden nur die Risiken, die durch Umweltprobleme für die Menschen entstehen (z. B. extreme Wetterereignisse wie Überschwemmungen), berücksichtigt. Vernachlässigt werden jedoch die Übergangsrisiken - d. h. die sozialen Risiken, die als negative Konsequenz der ökologischen Massnahmen resultieren können (z. B. höhere Lebensmittelpreise infolge der Einführung strengerer Umweltstandards).
Der gerechte Strukturwandel zielt darauf ab, diese beiden Arten von Risiken in allen Bereichen einzubeziehen: Ernährung, Energie, Gebäude, Mobilität, Gesundheit, Tourismus etc. Dieser Ansatz ermöglicht es auch, verschiedene komplementäre Ansätze der sozialen Gerechtigkeit miteinander zu verknüpfen, insbesondere :
Verteilungsgerechtigkeit («distributional justice»), bei der es um eine gerechte Verteilung aller Kosten und Vorteile im Zusammenhang mit ökologischen Übergangsprozessen geht - z. B. zwischen Immobilienbesitzer/innen, Mieter/innen und öffentlichen Behörden im Rahmen von energetischen Gebäudesanierung.
Verfahrensgerechtigkeit («procedural justice»), bei der es um die Einbeziehung von Individuen und Gruppen in Entscheidungsprozessen geht, insbesondere von besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen – d.h. bspw., dass eine Vielzahl von gesellschaftlichen Gruppen an der Ausarbeitung von Massnahmen zur Anpassung an den Klimawandel beteiligt sind.
Anerkennungsgerechtigkeit («recognition justice»), bei der es um die Berücksichtigung der vielfältigen Identitäten, unterschiedlichen Arten von Wissen und Werten verschiedener gesellschaftlichen Gruppen geht - z. B. durch die Berücksichtigung der differenzierten Art und Weise, wie ökologische Massnahmen gestaltet werden müssen, um diese Identitäten zu respektieren.
In einigen unserer Nachbarländer werden bereits konkrete Massnahmen umgesetzt. Zu nennen sind beispielsweise Frührenten oder Umschulungsmassnahmen für Arbeiter/innen in Wirtschaftssektoren, welche besonders vom ökologischen Übergang betroffen sind (Spanien, Deutschland usw.), oder etwa Initiativen wie in Grenoble (Frankreich) für eine von der öffentlichen Hand unterstützte soziale Ernährungssicherheit, was erlaubt, lokale, gesunde und nachhaltige Lebensmittel zu einem fairen Preis für alle zugänglich zu machen (ähnliche Erfahrungen werden übrigens auch in Genf gemacht). Die Massnahmen für einen gerechten Übergang sind vielfältig (Sozialpolitik, finanzielle Anreize, Bildungspolitik, Arten von Entscheidungsprozessen usw.). All diese Massnahmen erfordern eine sorgfältige Abwägung der involvierten Risiken und Vorteile sowie eine Reflexion über die verschiedenen oben genannten Arten von Gerechtigkeit.
Gerechter Übergang vs. Klimagerechtigkeit?
Auch die Klimagerechtigkeit rückt die soziale Gerechtigkeit mehr ins Licht der ökologischen Debatten, wobei sie sich vor allem auf die Ungleichheiten zwischen den Verursacherländer und den vom Klimawandel überdurchschnittlich betroffenen Ländern konzentriert. Der Fokus liegt hauptsächlich auf internationale Vergleiche zwischen dem globalen Norden und globalen Süden. Der gerechte Strukturwandel hat hingegen seine Ursprünge in den Gewerkschaftsbewegungen. Er erlaubt sehr konkrete Herausforderungen für die Bevölkerung auf lokaler Ebene zu artikulieren, beispielsweise im Bereich der Arbeitsbedingungen, der Sozialversicherungen, dem Zugang von Gütern und Dienstleistungen, der Raumplanung etc.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Damit ein ökologischer Übergang möglich ist, muss die soziale Gerechtigkeit im Sinne eines gerechten Strukturwandels in den Mittelpunkt der zu ergreifenden Massnahmen gestellt werden. Diese Massnahmen müssen künftig eine Form der „sozialen Folgenabschätzung“ beinhalten, die es ermöglicht, die durch die Übergangsmassnahmen geschaffenen Ungleichheiten zu identifizieren, genau zu messen und so weit wie möglich zu reduzieren, und zwar unter Einbeziehung einer breiten Vielfalt an sozialen Gruppen. Letztendlich geht es beim gerechten Strukturwandel um eine Politik, die den Menschen und sein Wohlergehen in den Mittelpunkt stellt und gleichzeitig die planetaren Grenzen respektiert.
Ein Pionierprojekt von sanu durabilitas zum Thema gerechter Strukturwandel
Sanu durabilitas hat im Frühling 2024 ein ehrgeiziges Projekt zum Thema gerechter Strukturwandel in der Schweiz gestartet. Einer seiner Ausgangspunkte ist die mangelnde Berücksichtigung der sozioökonomischen Auswirkungen und der Gerechtigkeitsfragen in der Umweltpolitik der Schweiz. Das dreijährige Projekt, das von der Stiftung Mercator unterstützt wird, zielt zunächst darauf ab, wissenschaftliche und praktische Erkenntnisse aus dem Ausland in den Schweizer Kontext zu übersetzen. Anschliessend sollen die für einen gerechten Strukturwandel in der Schweiz notwendigen Akteur/innen identifiziert sowie Prozesse für einen gerechten Strukturwandel in der Praxis getestet werden.
Autor/innen: Dieser Artikel wurde von Dr. Johanna Huber und Dr. Nils Moussu, wissenschaftliche Mitarbeiter/innen Just Transition bei sanu durabilitas, verfasst.
Alle bisherigen Blogbeiträge hier.
Weitere Ressourcen
Für weitere Informationen zum Projekt JT – Für eine gerechte Transition in der Schweiz von sanu durabilitas: https://www.sanudurabilitas.ch/fr/projets/jt/
Mechanismus für die gerechte Transition der Europäischen Union: https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/priorities-2019-2024/european-green-deal/finance-and-green-deal/just-transition-mechanism_fr
Fransolet, A. & Vanhille, J. (Hrsg.) (2023) Just Transition in Belgium: Concepts, Issues at Stake, and Policy Levers. Wissenschaftlicher Bericht im Auftrag des High Committee for a Just Transition, Brüssel: November 2023 (URL)
Spanische Strategie für eine gerechte Transition: https://www.transicionjusta.gob.es/Documents/Publicaciones%20ES%20y%20EN/Just%20Transition%20Strategy_ENG.pdf
Ausstieg aus der Kohle in Deutschland: https://www.bundesregierung.de/breg-de/schwerpunkte/klimaschutz/kohleausstieg-1664496
Macquarie R, Green F, Kenward T, Müllerová H, Feigerlová M, Balounová E (2023). Just and robust transitions to net zero: A framework to guide national policy. University College London, Grantham Research Institute on Climate Change and the Environment, ClimLaw: Graz, Centre for Climate Law and Sustainability Studies, Center for International Climate Research.
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