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Rethink Now Serie: Von gutem und schlechtem Wachstum


Rethink Now von Ion Karagounis

Können wir unsere Umweltprobleme lösen, selbst wenn sich unsere Wirtschaft weiter wie bisher entwickelt und stetig wächst? Nein, denn unser Planet kann einen weiter steigenden Ressourcenverbrauch und die damit verbundenen Emissionen nicht verkraften (siehe auch Blogbeitrag zur Entkopplung von Umweltbelastung und Wirtschaftsentwicklung). Dies führt zur Frage: Unter welchen Umständen und in welchen Bereichen ist Wachstum weiterhin sinnvoll, und wo müssen wir eine Rücknahme der wirtschaftlichen Tätigkeit anstreben?


Auf den ersten Blick ist die Antwort einfach: Wachsen ist dort ok, wo das Wachstum Klima und Biodiversität nicht zusätzlich schädigt, also zum Beispiel, indem materialintensiver durch einen weniger intensiven oder gar immateriellen Konsum ersetzt wird. Wachstum ist zudem dort zu tolerieren, wo die Befriedigung elementarer menschlicher Bedürfnisse nur über Wachstum möglich ist. Hingegen sind überall dort Ersatzlösungen zu suchen und zu entwickeln, wo grosse Mengen an Energie und Ressourcen gebraucht werden.


Die Antwort wird schwieriger, je stärker es ins Detail geht. Hier trotzdem einige ausgewählte Punkte, die aus meiner Sicht zentral sind:


Hier ist eine Schrumpfung unumgänglich

Bereitstellung und Nutzung fossiler Energien: Um die Klimaziele des Pariser-Abkommens einzuhalten, muss die Menschheit in den nächsten zwanzig bis dreissig Jahren die Nutzung fossiler Energien hinter sich lassen (Netto-Null-CO2-Emissionen). Einzelne Spezialanwendungen mögen zwar noch möglich sein, aber die grossen Massenanwendungen dürfen nicht mehr auf fossilen Energien basieren (Mobilität, Beheizung/Kühlung von Gebäuden, industrielle Prozesse). Dies wird zwangsläufig zu einer Schrumpfung derjenigen Industriesektoren führen, die sich mit der Gewinnung, Verteilung und Bereitstellung fossiler Energien befassen.


Bereitstellung und Nutzung materialintensiver Güter: Die Materialintensität unserer Wirtschaft muss grundsätzlich verringert werden. Dies betrifft alle Bereiche unserer Wirtschaft, denn jede Bereitstellung von materialintensiven Gütern belastet die Umwelt auf die eine oder andere Art. Besonderes Augenmerk ist dabei auf diejenigen Branchen zu legen, die die Rohstoffe oder Vorprodukte für die verschiedensten Güter bereitstellen: Baustoffe, Chemie, Glas, Nichteisen-Metalle, Papier und Stahl. Denn es wird besonders viel Energie benötigt, um Aluminium, Kupfer und Zink, Dämm- und Kunststoffe sowie Grundchemikalien, Papier und Karton, Glas, Glasfasern, Stahl, Zement, Kalk, Gips und Keramik herzustellen.


Auf der Ebene des Endverbrauchs sind Branchen mit kurzlebigen Konsumgütern wie Elektronikgeräten oder Kleidern besonders kritisch. Bei den Kleidern beispielsweise wird ein signifikanter Teil der Produktion gar nie getragen, sondern direkt wieder weggeworfen. Die Vermeidung solcher Leerläufe führt zu einer mengenmässigen Schrumpfung des Sektors, gleichzeitig jedoch zu neuen Geschäftsfeldern (Kleider mieten statt kaufen).


Hier ist Wachstum weiterhin sinnvoll:

Erneuerbare Energien und Technologie allgemein: Um aus der fossilen und nuklearen Energiegewinnung aussteigen zu können, muss der Sektor der erneuerbaren Energien wachsen. Generell sind Technologien zu bevorzugen, die die natürlichen Prozesse nutzen (und nicht gegen die Natur arbeiten). Beispiel: Statt mit Klimaanlagen lassen sich einzelne Gebäude oder Gebäudegruppen durch die Nutzung von natürlichen Luftströmen sowie mit Begrünungen kühlen.


Nutzen statt besitzen, langlebige und reparierbare Güter: Konsumformen weiterentwickeln, die die Nutzung von Gütern über den Besitz stellen (Sharing, Leasing) und Produktionsformen, die die Langlebigkeit und Reparierbarkeit von Gütern und sowie Wiederverwendbarkeit von Rohstoffen im Fokus haben (Kreislaufwirtschaft).


Erholung, Bildung und Kultur: Aktivitäten, die die Nähe suchen, lassen sich ressourcenschonend organisieren. Sie sind wichtig für die physische und psychische Gesundheit der Bevölkerung, zudem handelt es sich um zentrale Soft-Faktoren, um festgefahrene Denk- und Handlungsmuster in Frage zu stellen und den Raum für Alternativen und neue Wirtschaftsformen aufzuzeigen.


Hier kommt es drauf an

Bei vielen Tätigkeiten ist die Antwort nicht zum Vornherein klar, sondern es kommt darauf an, wie sie genau ausgestaltet werden. Dazu vier Überlegungen:


Dienstleistungen allgemein: Es ist zwar richtig, dass das Erbringen von Dienstleistungen prima vista weniger Ressourcen braucht als die Herstellung materialintensiver Güter. Trotzdem ist Vorsicht am Platz. Jede immaterielle Leistung hat einen materiellen Hintergrund. Gerade die digitalen Kommunikationsmittel brauchen grosse Mengen an Energie (beispielsweise das Streamen von hochaufgelösten Filmen). Ressourcenintensiv ist auch die Bereitstellung von Werbemitteln für Dienstleistungen oder Räumlichkeiten, in denen Dienstleistungen konsumiert werden (z.B. Wellness, Fitness).


Digitalisierung: Die Digitalisierung wird die Wirtschaft und unser Leben in den kommenden Jahrzehnten stark prägen. Oft wird dabei angenommen, dass sich dadurch Ressourcen sparen lassen. Erfahrungen legen nahe, dass dies nicht automatisch der Fall sein wird (siehe Beispiel im Kästchen). Die Digitalisierung muss deshalb aktiv in eine ressourcenschonende Richtung gelenkt werden, zum Beispiel über eine Energieverbrauchssteuer oder indem Flatrates bei der Datenübertragung ersetzt werden durch Preismodelle, die den effektiven Datenfluss verrechnen.



Fallbeispiel Digitalisierung: Führt autonomes Fahren zu weniger Ressourcenverbrauch?


Dafür spricht: Der Verkehr lässt sich exakter steuern, dadurch können Fahrzeuge näher aufeinander fahren. Damit braucht es weniger Fläche, um eine gleiche Menge an Verkehr zu bewältigen, respektive die Fläche muss nicht erhöht werden, um mehr Verkehr zu bewältigen. Dank Digitalisierung lässt sich ausserdem der Warenverkehr besser disponieren, dadurch werden umweltschädigende Leerfahrten vermieden.

Dagegen spricht: Autonomes Fahren erlaubt es auch Personen zu fahren, die bis jetzt keine Möglichkeit dazu hatten: Kinder und Jugendliche, die die Altersgrenze noch nicht erreicht haben; ältere Personen, die aufgrund körperlicher Einschränkungen nicht mehr in der Lage sind zu fahren. Zudem lässt sich ein autonom fahrendes Auto auch als «rollendes Office» nutzen. Damit erhöht sich das Verkehrsvolumen und die Umweltbelastung.


Finanzdienstleistungen (Bank- und Börsengeschäfte, Vermögensverwaltung etc.): Das Erbringen der Dienstleistung benötigt in der Regel wenig Energie (Ausnahme: Blockchain-Technologie). Entscheidend ist jedoch, welche Aktivitäten durch eine Finanzierung erst ermöglicht werden. Mit seinen Entscheiden hat ein Investor (ob privat, als Unternehmen oder als öffentliche Hand) einen enormen Einfluss auf die Belastung der Umwelt.


Effizienzsteigernde Technologien: Dieses Paradebeispiel für Umweltschutzmassnahmen ist kritisch zu hinterfragen. Effizienzsteigerungen führten in der Vergangenheit immer zu einer Mehrproduktion und einem Mehrkonsum von Gütern (so genannter Rebound-Effekt). Dadurch profitiert die Umwelt gar nicht oder viel weniger als erwartet. Es braucht Rahmenbedingungen, die dafür sorgen, dass bei Effizienzsteigerungen der mengenmässige Absatz nicht steigt. Dazu zählen Abgaben, Anwendungseinschränkungen oder Kontingentslösungen (siehe auch Blogbeitrag zu den Ressourcenbudgets).


Mein Fazit: Erstens: Je konkreter wir die Frage beantworten wollen, wo wir noch wachsen dürfen und wo nicht, desto anspruchsvoller wird es, eine fachlich zutreffende Aussage zu finden. Zweitens: Obige Aussagen mögen teilweise konsum- und wirtschaftsfeindlich daherkommen. Trotzdem werden wir nicht darum herumkommen, sie ernsthaft zu diskutieren, wenn wir den Übergang zu einer Wirtschaft schaffen wollen, die die planetaren Grenzen respektiert. Dabei stellt sich zusätzlich die Frage, wie sich der globale Süden entwickeln kann, ohne diese Ziele in Frage zu stellen.


Der nächste Blogbeitrag wird sich mit der Frage befassen, wer eigentlich für die Lösung unserer Umweltprobleme verantwortlich sein soll: Die Politik oder jede:r einzelne von uns?



Kommentare zu diesem Beitrag? Gerne an ion.karagounis@wwf.ch oder über https://www.linkedin.com/in/ion-karagounis-1a623a173/


Bis jetzt erschienen im Rethink-Blog:

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